Kreativität im Erwachsenenalter

Mein Fachartikel im Bildungsmagazin Steiermarkhof

„Jedes Kind ist ein Künstler. Das Problem besteht darin, wie es ein Künstler bleiben kann, wenn es aufwächst.“ (Pablo Picasso)

Dieses Zitat habe ich entdeckt, als ich meine Diplomarbeit im Rahmen der Montessori-Pädagogik-Ausbildung mit dem Titel „Kreativität zulassen“ verfasst habe. Kinder sind also von Natur aus kreative Wesen. Wie sieht es jedoch mit den Erwachsenen aus? Irgendwo auf dem Weg zwischen Kindsein und Erwachsensein geht vielen diese ureigene Schöpferkraft verloren. Ob es nun das Schulwesen ist oder das Eingebettet sein in die Erwachsenenwelt, darum geht es mir nicht. Vielmehr stellt sich für mich die Frage, wie kann ich die Kreativität wiederentdecken? Was bringt sie mir als 30-, 40-, 60- oder 90-Jährige? Freude? Selbstbewusstsein? Resilienz? Konzentrationsvermögen? Von jedem etwas, ist meine Erfahrung.

 

Kreativität – Was ist das?

Den Begriff Kreativität findet man heute fast überall. Doch was bedeutet er genau? Kreativität geht auf das lateinische Wort creare zurück, was so viel heißt wie „etwas neu schöpfen, etwas erfinden, etwas erzeugen, herstellen“, aber auch die Nebenbedeutung von „auswählen“ hat. Der Begriff enthält als weitere Wurzel das lateinischen crescere, das mit „geschehen und wachsen“ übersetzt wird (wikipedia) Wir haben es also mit einer Doppelbedeutung zu tun, einerseits passives Geschehen lassen und andererseits aktives Tun.

Kreativität umfasst viele Bereiche. Malerei, Bildhauerei, Musik, Literatur, … Meine Vorlieben gelten dem Upcycling, dem Schreiben und dem Dekorieren mit Naturmaterialien. Und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, auch anderen zu helfen, ihre Kreativität wiederzufinden. Aller Anfang ist schwer oder jedem Anfang wohnt ein Zauber inne? Zu aller erst müssen wir uns davon lösen, einen Bestseller schreiben oder einen Kunstpreis gewinnen zu wollen. Kreativ sein, nur für einen selbst. Nicht nachdenken, was andere Leute darüber sagen oder denken. Mut haben. Ganz bei sich sein. Sich einlassen auf das Tun und ins Sein kommen. Oder umgekehrt.

 

Die Welt ist voller wunderbarer Dinge, für die wir blind geworden sind.

Ich liebe Flohmärkte. Ich finde immer etwas, sehe in Dingen das Besondere. In einer alten Kleiderschürze zum Beispiel das wunderschöne Muster im Stoff, die feste Baumwolle. Der alte Wollpullover mit den Löchern an den Ellbogen lässt sich in der Waschmaschine verfilzen und zu einer Tasche nähen. Die Acrylbilder, die keiner gekauft hat, kann man mit den unterschiedlichsten Materialien aufpeppen. Der kleine Stoffblumenstrauß, der Puppenspiegel, die Glasmurmel – alles in unserer Umgebung gibt Anregung zum Geschichtenerzählen – man muss nur genau hinschauen und -hören.

Ich bin eine Sammlerin. In meiner Werkstatt finden sich Dinge, die ich irgendwann einmal brauchen kann. Schachteln, Dosen, Gläser, Kleidung, Schneckenhäuser, Muscheln. Ich weiß, was ich irgendwann einmal mitgenommen habe. Ich weiß, wo ich es aufgehoben habe. Und ich weiß, irgendwann kann ich es brauchen.

 

Kreativität beim Schreiben

Wir schreiben ständig Arbeitslisten, Einkaufslisten, Nachrichten. Warum nicht einmal über das eigene Leben schreiben? Beim autobiografischen Schreiben kann man vieles für die Kinder und Enkelkinder dokumentieren. Der Titel meines ersten Buches „Bei dir früher war alles cooler“ stammt von meiner Nichte Lena, die meine Geschichten liebt. Oder man schreibt nur für sich selbst. Beim Schreiben kommen oft Erkenntnisse zu Tage. Überlegungen oder quälende Sachen habe ich auf Papier gebracht und brauche nicht mehr so viel darüber nachdenken, ich kann aus dem Gedankenkarussell aussteigen.

Doch schreiben geht nicht von selbst. Man muss es trainieren. So wie man Muskeln trainiert. Ein leeres Blatt Papier kann auf manche furchteinflößend wirken, doch mit ein paar einfachen Übungen kommt man schnell in einen guten Schreibfluss. Reimwörter zum Beispiel eignen sich, um ins Schreiben zu kommen. Wenn man einmal mit dem Reimen beginnt, kann man nicht mehr damit aufhören. Ich suche und finde mittlerweile überall Reimwörter. Sie springen mich förmlich an. Nehme ich die Butter aus dem Kühlschrank, fällt mir sogleich Mutter, Futter und Kutter ein. Wobei es sowohl bei Mutter als auch bei Futter zwei verschiedene Bedeutungen gibt.

Schreiben ist vielseitig. Prosa, Reime, Lyrik. Es gibt viele verschiedene Techniken, die ich den TeilnehmerInnen meiner Schreibwerkstätten zeige und so manch einer ist verwundert, welche verborgenen Talente in ihm oder ihr stecken.

 

Kreativität beim Upcycling

„Maahh, das habe ich bei unserer ersten Kreuzfahrt angehabt.“ Nichte Lena braucht mehr Platz im Kleiderschrank und mustert zu klein Gewordenes aus. Und ich bin eingeladen, um zu sehen, ob ich was brauchen kann. Nicht für mich zum Anziehen, denn die Teile, die Lena nicht mehr passen, passen mir noch viel weniger. Aber sie weiß, dass ich eine Sammlerin bin und viele Dinge brauchen kann. Und jetzt schwelgt sie in Erinnerungen und ich gehe mit zwei Säcken voll Kleidung und einem Kopf voller Ideen nach Hause. Und da Lena bald Geburtstag feiert, arbeite ich das Kreuzfahrtskleid zu einer Handtasche um, die sie dann freudestrahlend entgegennimmt.

So wie Lena geht es vielen von uns. Wir können uns oft schwer von Kleidungsstücken trennen, weil Erinnerungen damit verbunden sind. Oder, weil sie teuer waren, aber doch nicht so ganz gefallen. Wir heben sie auf, obwohl wir sie nicht mehr tragen, weil sie zu kurz, zu lang, zu weit oder sonst was sind. In meinen Workshops entstehen dann wunderbare neue Sachen zum Anziehen oder Accessoires. Das macht Spaß, ist nachhaltig und die Werkstücke sind Unikate.

 

Kreativität in und mit der Natur

Ich gehe durch den Wald und entdecke bei fast jedem Schritt die Wunderheiten der Natur. Da ein leuchtend gelbes Blatt, dort eines, das von einer Raupe in bizarrer Weise angefressen worden ist. Ich bücke mich, um ein Stück Rinde aufzuheben. Wahrscheinlich von einer Eiche. Braun, grob, zerfurcht. Ein Eldorado für den taktilen Sinn. Weiter oben leuchtet die schwarz-weiße Rinde einer Birke. Auch die muss ich mitnehmen. Sie ist viel glatter. In meiner Jackentasche findet sich noch eine Kastanie vom letzten Jahr, daneben eine Eichel und die Hülle einer Buchecker. Das leuchtendgrüne Moos lädt mich ein, es mitzunehmen. Am besten eines, das auf einem Stein wächst, denn dann geht nicht so viel Erde mit, wenn man es runterlöst. Die Wurzel, über die schon hunderte Menschen achtlos darübergestiegen sind, bettelt mich förmlich an, ihr einen ehrenvollen Platz zu Hause zu geben. Schneckenhäuser als Dekoration für den Adventkranz? Sieht in Kombination mit Flechten sehr gut aus. Rindenstücke und alte Flaschen? Warum nicht. Experimentieren macht Freude. Man muss nur mit offenen Augen durch die Welt geben und mit ein paar Anleitungen entstehen ausgefallene Dinge.

 

Kreativität und die Auswirkung auf das Gehirn

Als Gedächtnis- und Bewegungstrainerin interessiert mich natürlich auch, was hat Kreativität mit Gehirn zu tun? Hat kreatives Tun einen Einfluss auf unser Gehirn? Schreiben ist auf alle Fälle gut für das Gehirn. Beim Schreiben pflegen wir unseren Sprachschatz bei der Suche nach dem passenden Wort im Langzeitgedächtnis und erweitern ihn sogar beim Entdecken neuer Wörter. Wir wollen Dinge benennen und differenzieren (grasgrün, flaschengrün, tannengrün). Wenn wir unseren Wortschatz pflegen, arbeitet auch unser Verstand gut. „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, sagte schon Ludwig Wittgenstein.

Geschichten bestehen aus Wörtern und Wörter sind wichtige Werkzeuge unseres Gehirns. Reimwörter suchen ist eine Variante des Gehirntrainings und beim Reimen ergeben sich oft schon bei der Suche nach den Wörtern kleine Gedichte oder sie inspirieren zu einer Geschichte. Eine der vielen Merkstrategien ist zum Beispiel, Dinge in eine Geschichte zu verpacken. Und da die Geschichten an irgendeinem Ort stattfinden wird zugleich unser räumliches Vorstellungsvermögen geschult.

Das räumliche Vorstellungsvermögen kommt auch beim Gestalten mit Naturmaterialien und beim Upcyceln von Kleidungsstücken zum Einsatz. Und auch die Gabe, Folgen und Reihen zu bilden, wird trainiert. Welcher Schritt kommt als nächstes? Zuerst anmalen oder aufkleben? Zuerst den Reißverschluss oder das Futter einnähen? Weiters wird die sinnliche Wahrnehmung beim kreativen Gestalten gestärkt. Zuerst durch das Betrachten, dann durch das eigene Tun. Die verschiedenen Materialien sprechen die verschiedenen Sinne an. Den Farbsinn, den Tastsinn, den Geruchssinn, den Gehörsinn und den schon vorher erwähnten räumlichen Sinn. Und die Sinne sind ganz wichtig in der Demenzvorbeugung. Denn durch die Sinne nehmen wir unsere Umgebung wahr.

Beim kreativen Arbeiten wird außerdem die Auge-Hand-Koordination, die Feinmotorik und die Konzentration trainiert. Wichtig dabei ist, immer wieder Neues zu lernen. Unser Gehirn will gefordert werden. Und es ist bis ins hohe Alter leistungsfähig und Nervenzellen können nachwachsen. In meinen Workshops und Seminaren bemerke ich immer wieder, dass Kreativität ansteckend ist. Ganz egal, wie alt man ist. Wichtig ist, sich darauf einzulassen und es auszuprobieren.  Es entsteht eine ganz eigene Dynamik und die leuchtenden Gesichter meiner TeilnehmerInnen sind für mich immer wieder Ansporn, selbst neue Techniken auszuprobieren und zu erfinden. Kreativität ist der Boden, auf dem meine vielen Talente zum Blühen kommen. Vielleicht demnächst auch Ihre?